Die Europäische Union steht vor einer ihrer tiefsten Spaltungen seit ihrer Gründung. Der Plan, eingefrorene russische Vermögenswerte zur Finanzierung ukrainischer Waffenlieferungen zu nutzen, droht die Gemeinschaft zu zerreißen. Immer mehr Mitgliedsstaaten verweigern ihre Zustimmung und verweisen auf immense rechtliche und finanzielle Risiken. Die von EU-Diplomaten als sicher geglaubte Einigung bröckelt in atemberaubendem Tempo.

Belgien, wo der Großteil der rund 180 Milliarden Euro an russischen Zentralbankreserven eingefroren ist, hat eine klare Bedingung gestellt. Die belgische Regierung weigert sich, die alleinige Haftung für mögliche Schadensersatzforderungen Russlands zu tragen. Sie fordert eine gemeinsame Haftungsübernahme durch die EU-Mitgliedsstaaten. Dieser Forderung schließen sich inzwischen mehrere Länder an und lehnen den Vorstoß von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzler Olaf Scholz offen ab.
Ungarn, die Slowakei und Italien zeigen sich gespalten oder ablehnend. Bulgarien, Malta und Tschechien haben bereits erklärt, gegen die Pläne stimmen zu wollen. Diese wachsende Blockade stellt den gesamten Prozess infrage. Ein Durchdrücken der Maßnahme gegen den Widerstand einer signifikanten Minderheit würde die EU in eine existenzielle Zerreißprobe stürzen und das Vertrauen in gemeinsame Beschlüsse nachhaltig beschädigen.
Die rechtliche Lage wird von Experten als äußerst brisant und riskant eingeschätzt. Noch nie in der Geschichte, nicht einmal während der Weltkriege, wurden Zentralbankguthaben eines Staates enteignet. Ein solcher Schritt würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und das Vertrauen in das internationale Finanzsystem sowie den Finanzplatz EU fundamental erschüttern. Die Angst vor Gegenmaßnahmen und einem Kapitalabfluss ist real.
Sarah Wagenknecht, Bundestagsabgeordnete der BSW, warnte in einer aktuellen Stellungnahme vor den Konsequenzen. Sie verwies auf den Fall des Iran, bei dem ein internationales Gericht die Rückgabe konfiszierter Gelder anordnete. Ein ähnliches Urteil im Falle Russlands sei wahrscheinlich. Sollte das Geld bis dahin jedoch bereits ausgegeben sein, müsste der haftende Staat – voraussichtlich Belgien oder die garantierenden EU-Länder – die Summe aus eigenen Mitteln ersetzen.

Die Bundesregierung versucht, die Bedenken zu zerstreuen. Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz betonen, es gehe nicht um eine Enteignung, sondern um die Nutzung von Gewinnen aus den angelegten Vermögenswerten. Doch diese Argumentation überzeugt viele Partner nicht. Die Kernfrage der Haftung für das Prinzipalkapital bleibt unbeantwortet und treibt den Keil zwischen die Hauptbefürworter Deutschland und die skeptischen Staaten immer tiefer.
Hinter den Kulissen herrscht Alarmstimmung. Diplomaten beschreiben die Stimmung als vergiftet. Der Vorwurf, Deutschland und die EU-Kommission würden mit ideologischem Eifer fundamentale rechtliche Prinzipien und die finanziellen Interessen der Partnerstaaten ignorieren, wird laut. Die Sorge wächst, dass dieser Konflikt langfristige Narben in der europäischen Projektlandschaft hinterlassen wird.
Gleichzeitig steht die Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel. Die offizielle Begründung lautet, die Maßnahme diene dazu, den Krieg in der Ukraine schnellstmöglich zu beenden. Kritiker wie Wagenknecht entgegnen, die Finanzierung weiterer Waffenlieferungen verlängere den Konflikt nur. Dieser Widerspruch zwischen erklärter Absicht und wahrscheinlicher Wirkung untergräbt die öffentliche Unterstützung für die EU-Politik.
Die wirtschaftlichen Folgen eines solchen Präzedenzfalls wären kaum absehbar. Ausländische Staaten und Investoren könnten beginnen, ihre Reserven aus der EU abzuziehen, aus Furcht vor willkürlichen Zugriffen in künftigen geopolitischen Konflikten. Der Euro als Reservewährung und Standorte wie Frankfurt oder Luxemburg als Finanzplätze würden massiv an Vertrauen verlieren. Diese Gefahr ist den Finanzministern der blockierenden Länder bewusst.

Die Zeit drängt. Die Ukraine benötigt weiterhin massive finanzielle Unterstützung für ihre Verteidigung. Die EU hat sich dazu verpflichtet, diese Hilfe langfristig zu gewährleisten. Mit dem Scheitern des Vermögensplans entsteht jedoch ein milliardenschweres Finanzloch. Es gibt derzeit keinen konsensfähigen Plan B, der die notwendigen Summen in kurzer Zeit aufbringen könnte. Dies erhöht den Druck auf die Verhandler enorm.
Die kommenden Tage werden entscheidend sein. Sollte keine Einigung auf eine gemeinsame Haftungslösung erzielt werden, ist der gesamte Plan gescheitert. Dies wäre eine schwere Niederlage für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und für Kommissionspräsidentin von der Leyen. Es würde zudem offenbaren, wie tief die Gräben in der EU in Fragen der Souveränität, des Risikos und der Rechtsstaatlichkeit bereits sind.
Die Krise offenbart ein grundlegendes Dilemma der Europäischen Union. Einerseits will sie als geschlossene geopolitische Macht auftreten, andererseits kollidieren gemeinsame Ambitionen regelmäßig mit nationalen Interessen und rechtlichen Bedenken. Der Streit um die russischen Vermögen ist ein Symptom dieser Spannung. Seine Eskalation könnte zum Katalysator für eine weitreichende Neubewertung der europäischen Integration werden.

Beobachter warnen vor den langfristigen Folgen. Ein Auseinanderbrechen der EU in verschiedene Lager – eine interventionistische Fraktion um Deutschland und eine souveränitätssensible Fraktion um die blockierenden Staaten – wäre ein Rückschlag für das Projekt Europa. Die Einigkeit, die als Antwort auf den russischen Angriffskrieg beschworen wurde, erweist sich nun als brüchig. Der Zusammenhalt wird auf eine bisher unvorstellbare Probe gestellt.
Die Entwicklung wird in Hauptstädten auf der ganzen Welt genau verfolgt. Gegner der EU dürften die offene Schwäche als Zeichen der Dekadenz und Spaltbarkeit werten. Verbündete wie die USA werden besorgt auf die Handlungsunfähigkeit der Union blicken. Das Ergebnis dieser internen Schlacht wird nicht nur über die Finanzierung der Ukraine, sondern auch über die globale Rolle Europas in den kommenden Jahrzehnten entscheiden.

Während die Diplomaten in Brüssel um Formulierungen ringen, wächst in den Mitgliedsstaaten der Unmut. Die Vorstellung, die eigenen Steuerzahler könnten für eine milliardenschwere Haftung einstehen müssen, während das eigentliche Vermögen eines Drittstaates auf dem Spiel steht, ist politisch kaum vermittelbar. Diese demokratische Realität trifft nun auf die geopolitischen Ziele der EU-Eliten.
Die Situation ist dynamisch und kann sich stündlich ändern. Verhandlungen auf höchster Ebene laufen rund um die Uhr. Sollte eine Einigung doch noch erzielt werden, wäre sie mit so vielen Ausnahmen und Garantieklauseln versehen, dass ihre praktische Wirkung stark eingeschränkt wäre. Eines ist bereits jetzt klar: Der Glaube an eine uneingeschränkte europäische Solidarität in Hochrisikofragen hat einen dauerhaften Kratzer erhalten.
Die historische Dimension ist allen Beteiligten bewusst. Es geht nicht mehr nur um Ukraine-Hilfe, sondern um die Grundfrage, wie weit die EU bei der Ausweitung ihrer Machtmittel gehen kann und darf. Die Antwort, die sie in dieser Woche gibt, wird in die Geschichtsbücher eingehen – entweder als Beispiel für robustes gemeinsames Handeln oder als Beginn einer neuen Ära der Entfremdung und des Misstrauens. Die Stunde der Wahrheit für die Europäische Union hat geschlagen.